Sie waren gerade einmal drei Monate verlobt. Die Familie der Braut hielt strikt an alten Traditionen fest: Die Braut durfte ihr Gesicht bis zur Trauung nicht zeigen. Dem Bräutigam wurde erklärt, dass dies seit Generationen so praktiziert werde, um die Ehe zu schützen, Reinheit zu bewahren und Glück zu bringen. Er fand es ungewöhnlich, respektierte jedoch den Wunsch der Familie.
Jedes Treffen verlief gleich: Sie saß ihm gegenüber in einem langen weißen Kleid, das Gesicht hinter einem leichten Schleier verborgen. Sie sprach leise und zurückhaltend, lächelte nur mit den Augen, hob den Schleier jedoch nie. Er deutete dies als Ausdruck von Schüchternheit. Selbst bei Videoanrufen schaltete sie stets die Kamera aus. „Es muss so sein“, wiederholte sie. Die Familie des Bräutigams war skeptisch, doch er versicherte allen, dass sie einfach anders erzogen sei. Er hatte sich bereits entschieden zu heiraten, und nichts konnte seine Entschlossenheit erschüttern – er liebte diese Frau.
Dann kam der Hochzeitstag. Der Saal war von warmem Kerzenlicht erfüllt, die Verwandten hatten sich versammelt, leise Musik spielte. Der Bräutigam bemühte sich, seine Nervosität zu verbergen, aber innerlich zitterte er – endlich würde er ihr Gesicht sehen. Er hatte so lange auf diesen Moment gewartet.

Als die Braut gemäß der Tradition auf ihn zutrat und sich neben ihn stellte, bemerkte er, wie stark ihre Hände zitterten. Sie wirkte nicht nur nervös – sie hatte Angst. Der entscheidende Augenblick war da. Alle Augen richteten sich auf das Paar. Vorsichtig hob er den Schleier… und blieb starr stehen.
„Die Hochzeit wird nicht stattfinden“, sagte er, und der Saal war wie erstarrt.
Das Gesicht unter dem feinen Stoff entsprach nicht dem Bild, das er sich über Monate hinweg ausgemalt hatte. Es war von dunklen Flecken, Narben und Unregelmäßigkeiten gezeichnet. Ganz anders als die zarte Vorstellung, die er im Kopf hatte. Ein leises Raunen ging durch den Raum. Einige keuchten, andere wandten sich ab. Er senkte die Hand, suchte nach Worten, doch keine fanden ihren Weg. Er fühlte sich betrogen.
Er stand auf, noch immer unschlüssig, und sagte schließlich: „Ich muss die Scheidung einreichen.“ Seine Worte schlugen ein wie ein Donnerschlag. Die Braut verbarg ihr Gesicht in den Händen, doch es war zu spät – jeder hatte gesehen, wie sie wirklich aussah.
Nur ihr Vater trat vor, bleich und bedrückt: „Verurteile uns nicht“, flüsterte er. „Wir hatten Angst… Angst, dass niemand sie jemals heiraten würde.“
Der Bräutigam funkelte ihn an, die Zähne zusammengebissen. Der alte Mann fuhr fort: „Sie leidet an einer seltenen Erkrankung. Sie ist nicht gefährlich, verändert jedoch ihr Gesicht vollständig. Wir haben es verborgen… nur um ihr eine Chance auf ein normales Leben zu geben.“
Stille senkte sich über den Saal, erfüllt von Scham, Mitleid und Unverständnis. Der Bräutigam stand dazwischen – zerrissen zwischen Wut, Schmerz und Mitgefühl – und sah die Frau zum ersten Mal so, wie sie wirklich war.